Seit kurzem leben hier Familien aus Afrika, Asien und Südamerika, geflohen vor Hass und Unterdrückung, Verfolgung und Ausbeutung, Mord und Totschlag. Eine Reportage von Peter Dermühl:
Das derzeitige Zuhause der Schutzsuchenden sind zwölf Container am Ortsrand mit dem bäuerlich-kernigen Namen „Beckwiesen“, erreichbar über einen schmalen, ungeteerten Wirtschaftsweg. Östlich rauscht die wildromantische Seeve vorbei. Der schmale Elbe-Nebenfluss gilt als kältestes Gewässer Niedersachsens. Besorgte Anwohner haben die neuen Mitbürger, die bisher nicht genügend Deutsch sprechen und noch weniger schwimmen können, schon vor der scheinbar harmlosen Seeve gewarnt. Selbst im Sommer kommt das Flüsschen nicht über acht Grad hinaus, seine Untiefen sind gefährlich und in den tückischen Strudeln lauert der Tod. Die Westgrenze vor den Containern bildet ein Abstellplatz für altgediente Lastkraftwagen, viele davon warten vergeblich auf Reparatur. So nimmt der Platz allmählich das Rostrot des ausrangierten Altmetalls an und könnte genauso gut am zerbombten Stadtrand von Aleppo oder in Grosny liegen, der von den Russen verwüsteten Hauptstadt Tschetscheniens.
Genau daher kommt eine sechsköpfige Familie. Die jungen Eltern sind erkennbar dem Islam zugeneigt. Eriskhan (Anmerkung der Redaktion: In der Folge sind Namen und genaue Herkunft aus Sicherheitsgründen verändert oder nicht genannt), der Vater bedeutet dem Besucher, dass er sehr dankbar sei, hier zu sein. Mehr gibt sein weniges Deutsch noch nicht her. Darüber, dass ein von Russland geführter, mörderischer Krieg, den die OSZE (Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa) als Genozid bezeichnet, darüber würde Eriskhan schon gar nicht sprechen wollen. Ibrahim Sayegh, Heimleiter der Container-Siedlung und geflohener Jurist aus Damaskus, kann das Schweigen aus eigener Erfahrung verstehen. „Die Angst, beim Reden darüber seine Identität zu offenbaren, ist groß.“ Der Syrer arbeitet für die Arbeiterwohlfahrt (AWO), die im Auftrag der Kreisverwaltung in Winsen „Beckwiesen“ als Gemeinschaftsaufgabe von Bendestorf und dem benachbarten Harmstorf unter ihren Fittichen hat.
Ibrahim und der betreuende AWO-Sozialpädagoge Henning Eberhard stehen mit dem Helferkreis aus ein paar wenigen Gemeindebürgern in Verbindung. Man plant und organisiert die Eingewöhnung. So kommen die Schutzsuchenden und die Einheimischen im Bendestorfer Rathaus, das Makens-Huus heißt, alle zwei Monate an jedem zweiten Sonntag zum „Bunten Miteinander“ bei Kaffee und Kuchen für drei Stunden zusammen. Nach einem ersten Treffen im übervollen Saal des Rathauses hat das Interesse der Bendestorfer für die Menschen in den Containern merklich nachgelassen. Gemeindeoberhaupt Bernd Beiersdorf will gegensteuern und hat sich Präsenzpflicht verordnet.
Der klein gewordene Kreis erkundigt sich unverdrossen weiter nach Lebensverläufen, Sorgen und Hoffnungen. Zwei Familien mit Kindern aus Südostanatolien drängen sich um einen Tisch im Makens-Huus. Sie sind Kurden und das sei ihr Schicksal, berichten sie. Polizei und Militär der Türken hätten sie immer wieder verfolgt, bedroht, kurzzeitig ins Gefängnis gesteckt. Ein Familienvater sei bis heute verschwunden. Wegen Sympathisierens mit der verbotenen kurdischen Untergrundorganisation PKK oder wegen einer der oft tödlich verlaufenden Familienfehde, so genau kennt man den Grund nicht. Auf der Flucht über die Balkan-Route, so schildern die kurdischen Mädchen, sind sie in den Händen von Schleusern gewesen und in deren Lkw beinahe erstickt. Alles Ersparte sei weg, sie hätten jetzt nichts mehr.
Einen Tisch weiter erfahren die Ehrenamtler, dass in Kolumbien die Kokain-Mafia wahllos ganze Familienverbände auslöscht, wenn diese ihr Land nicht für den Anbau der Rauschdrogen-Pflanze Coca umsonst abtreten. Jetzt sitzen vier Familien aus dem Coca-Land im Rathaus der Heide-Gemeinde und erklären, warum sie der Sprache wegen nicht in Spanien Asyl beantragt haben. „Deutschland ist viel sicherer,“ steht als Antwort aus dem Übersetzungsprogramm auf dem Bildschirm des Smartphones.
Den digitalen Dolmetscher braucht an diesem Sonntagnachmittag Claudia von Ascheraden nicht. Die Jesteburger Samtgemeindebürgermeisterin auf Besuch in Bendestorf kommt jetzt kaum mehr los von der kleinen Familie aus Liberia. Morris und seine Frau sprechen Englisch, vermeiden aber fast jedes Wort über ihre verschlungenen Pfade der Flucht nach Deutschland. Auf dem Weg ins gelobte Land wurde Morris‘ Frau von einem gesunden Jungen entbunden, den die Bürgermeisterin jetzt sanft in den Armen wiegt.
Dass bisher Frauen, Männer und Kinder in den „Beckwiesen“ eine Bleibe gefunden haben, liegt auch am geänderten Zuweisungsmodus von Schutzsuchenden durch die Abteilung „Migration“ des Landkreises Harburg. Zum Schrecken vieler Bendestorfer Bürger hier mitten im Hamburger Speckgürtel sollten ursprünglich bis zu 60 junge Männer die Container beziehen. Jetzt leben zwölf Familien am Ortsrand. Je nach Alter geht der Nachwuchs in den Kindergarten, in die Grundschule Bendestorf oder in die Oberschule in Jesteburg.
Wohlig und gemütlich wird die Kaffeerunde nicht werden, auch wenn Jürgen aus der Gruppe der Ehrenamtlichen „Deutschkurse jeden Dienstag ab 15 Uhr im Container“ anbietet, ein älteres Ehepaar die Kurden zu Kennenlern-Fahrten der neuen Umgebung einlädt und Irina aus der ukrainischen Atommeiler-Stadt Saporischschja, aus der sie in letzter Sekunde geflohen ist und seither in Jesteburg lebt, mit ihrem so freundlichen Lächeln Kaffee nachschenkt. Die Gemütlichkeit hört spätestens da auf, wo bei den Menschen von den „Beckwiesen“ die Erinnerung an kaum vorstellbare, schlimme Erlebnisse wach wird. Das passiert eben dann, wenn die Ehrenamtler wissen wollen, was ihren Gästen alles passiert ist. Man will die Schutzsuchenden ja besser verstehen können, will sie nicht noch mehr leiden sehen, möchte ihnen helfen, wo es nur geht.
Melanie Backhaus kennt sich auf diesem Feld gut aus. Sie ist in der Samtgemeinde Jesteburg als Flüchtlingskoordinatorin das, wie viele rundum dankbar erwähnen, unaufhörlich schlagende Herz der Helferbewegung. Die 51jährige sammelte über die Jahre Erfahrung bei Betroffenen in der Bewältigung von Traumata, hat sich in Trauma-Pädagogik fortgebildet und kann ermessen, wie sehr die Schutzsuchenden oftmals unter den schweren Verletzungen der Seele gelitten haben und noch leiden. Die Initiative „Buntes Miteinander“ geht auf sie ebenso zurück wie die Einrichtung eines „Internationalen Frauen-Cafés“. Während die Mutter zweier erwachsener Kinder am Ende des Treffs noch mithilft, die Tische im Makens-Huus zu wischen, klärt sie über die Probleme des Helfens auf. Die Nähe zu den neuen Mitbürgern müsse gut austariert sein. Zwischen dem Zuviel oder dem Zuwenig an Hinwendung, der übertriebenen Kumpelhaftigkeit oder der als Arroganz erscheinenden Distanz suchen die Bendestorfer Ehrenamtler im Moment die richtige Mitte. Beim Trockenwischen glaubt eine Frau diese Mitte gefunden zu haben: „Unseren Schutzsuchenden ihre Würde zurückgeben.“
Beim "Bunten Miteinander" gut aufgehoben: Bendestorfer Bürger treffen sich jeden 2. Monat am 2. Sonntag im Makens-Huus in der Poststraße mit den Schutzsuchenden, die in Containern an den "Beckwiesen" untergebracht sind (nächster Treff: 9. Februar ab 15 Uhr). Beim letzten Treff kam Samtbürgermeisterin Claudia von Ascheraden spontan vorbei und übernahm gekonnt die Betreuung eines kleinen Jungen einer Familie aus Liberia.
(Bericht: Peter Dermühl, Foto: Marianne Dermühl)